Istanbul, 13. bis 20. Mai 2013

(mit einem befreundeten

Ehepaar)

  Ankunft 11.20 Uhr Ortszeit.

   Wie kommen wir in den »Orient Express«, ohne einen Mord zu begehen oder Agatha Christie über den Weg zu laufen? Der bzw. das »Orient Express« ist nämlich unser Hotel, ganz in der Nähe des »Gari«, wo vor Jahri noch der Orienti Expressi über Bukarest, Wien, Paris nach London abfuhr, und in dem Albert Finney als Hercule Poirot sich mit Sean Connery, Ingrid Bergman, Anthony Perkins, Vanessa Redgrave, Richard Widmark und vielen anderen berühmten Schauspielern anlegte.

 

   Wir entscheiden uns für ein »Taksi«. Der Fahrer versteht allerdings nur Bahnhof, aber nicht Gari und erst Recht nicht Orient Express. Das hindert ihn aber nicht daran, sich in das Dreizehn-Millionen-Großstadt-Verkehrsgetümmel zu stürzen, immer wieder laut hupend, das Handy ständig am Ohr, um jemanden zu finden, der weiß, wo das »Orient Express« liegt. Er findet dann auch jemanden, der das ganz genau – nicht weiß. Also kurvt er mit uns stundenlang durch die schönen und engen Altstadtgassen vom Stadtteil Sultanahmed (gesprochen: Sultanachmed), fragt diesen und jenen Passanten, die alle ganz genau wissen, wo das Hotel liegt, nur zeigt jeder in eine andere Richtung. Irgendwann finden wir es doch, denn ich hatte die Fassade schon einmal im Internet gesehen und wir checken ein. Das Hotel ist schnuckelig, die Räume zwar etwas klein, aber die Bar ist einem Waggon des Orient Express nachempfunden.

 

   Auf zum Stadtbummel! Der Hotelportier, der deutsch spricht, schenkt uns eine Karte, die man am Ticketautomaten aufladen kann, um dann billiger mit der Tram zu fahren. Wir laden auf und fahren billiger mit der Tram, aber nur einmal, dann gibt die Karte ihren Geist aus der Flasche auf. Also kaufen wir ganz normal Chips zu drei Taler (Abkürzung: TL, soll heißen Türki Lirasi) und drängeln uns in die ständig überfüllte Tram. Vorher hatten wir allerdings die falschen Chips oder Coins gekauft, die galten nur für die Vorortbahn.

 

   Abends dann Spießrutenlaufen durch die Restaurantmeile. Jeder meint, uns in das beste Restaurant der islamischen Welt leiten zu müssen und in Kürze haben wir eine Sammlung von Visitenkarten, nur keinen Papierkorb weit und breit. Dann lassen wir uns doch bequatschen, aber da gibt es das Bier nur drinnen im ersten Stock, wo die strengen Augen des Imams von der gegenüberliegenden Moschee nicht hin reichen. Hier ist es aber ungemütlich. Also Abmarsch aus der Bannmeile und ein Stück weiter die Straße entlang. Hier fließen Bier und Wein in Strömen, denn der Imam ist kurzsichtig.

 

   Aber irgendwie ist er sauer, denn sein Muezzin dröhnt uns wenig später mit mindestens 150 Phon die Ohren voll, die jede Verständigung unmöglich machen. Das ist bestimmt Absicht, damit der Kellner unserer Bestellung nicht verstehen kann.

   Der nächste Tag begrüßt uns mit viel Lärm von der Straße unten, wo alle paar Minuten die Straßenbahn mit lauten Hupen und Klingeln die Leute von den Schienen scheucht. Es sind angenehme 18 bis 20 Grad und wir marschieren die paar hundert Meter erst ins »Arkeoloji Müzesi«, was natürlich Archäologisches Museum heißt, so einfach ist türkisch, dann zur Hagia Sophia zwecks Innenraum-Besichtigung.

Auf dem Platz davor tobt der Touristenbär. Endlosschlangen haben sich vor dem Kassenhäuschen gebildet. Ein freundlicher Türke bietet sofort an, uns an allen Schlangen vorbeizuführen, wenn wir vorher eine Fahrt durch den Bosporus bei ihm buchen würden. Er hat auch extra für uns ein günstiges Angebot. Wir verzichten dann aber auf sein süper-günstiges Angebot, machen ein paar tolle Fotos von Sophia und marschieren weiter zur »Blauen Moschee« gleich gegenüber. Die heißt auch »Sultan Ahmed Camii«, also Sultan Achmed Moschee. Wir beglückten die Nasen der Leute mit unseren qualmenden Socken, denn die Schuhe müssen draußen bleiben und unsere beiden Frauen binden sich ein Kopftuch um. Bei uns Männern verzichtet man großzügig darauf. Ist schon toll, die Blaue Moschee mit den blauen Kacheln an den Wänden und den bunten Glasfenstern. Unbedingt zu empfehlen!

  

   Ihr merkt schon: Im türkischen wird das »h« wie unser »ch« in »Bach« ausgesprochen. Erst dann bekommt auch die bekannte Übersetzung des Ausdrucks „Ich bin schwanger« ins Türkische seine sinnvolle Bedeutung:

Ahmed,

lah net,

i krieg mei Tah net

(O-Ton Sarah Kammigan)

   Später geht es über den »Großen Basar«. Der will gar nicht wieder aufhören. Wir flanieren an tausend exotischen Dingen und Gerüchen vorbei mit gelegentlichem Small-Talk mit den Besitzern der Stände, die überhaupt nicht verstehen können, dass wir nicht sofort ihrem gesamten Stand leerkaufen. Doch hin und wieder geben sie sich auch mit einem freundlichen Lächeln oder ein paar Worten zufrieden, die sie nicht oder völlig falsch verstehen.

 

 Die Straßenbahn bringt uns tags darauf vom Hotel über die »Galata Köprüsü«, was natürlich Galata-Brücke heißt, über das »Haliç« (sprich: Chalitsch), was wiederum natürlich »Goldenes Horn« heißt, zu einer unterirdischen Drahtseilbahn, die uns auf den »Taksim«-Platz zieht. Hier beginnt die berühmte »Istiklal Caddesi«, Fußgängerzone und Haupteinkaufsstraße Istanbuls im Stadtteil »Beyoğlu« (das »ğ« wird nicht mitgesprochen, ähnlich wie das Dehnungs-h im Deutschen). Hier tobt das Istanbuler Leben. Man hört alle Sprachen und sieht junge Mädchen, gekleidet in Hot Pants bis Burka mit Sehschlitz. Wir wollen auch auf den Galata-Turm, der einen fantastischen Blick auf Bosporus und Goldenes Horn bietet, aber die Schlange ist uns zu lang.

   Weiter geht es durch Gassen und Gässchen und wir entdecken eine Besonderheit des türkischen Lebens: Wenn nämlich der gemeine geschäftstüchtige Türke sich selbstständig machen und vielleicht einen Laden eröffnen will, dann schlendert er, genau wie wir, durch die Gassen und entdeckt ein Lädchen, das verkauft, sagen wir ’mal Wasserpumpen. Nebenan ist ein zweites Lädchen, auch das verkauft Wasserpumpen. Und daneben? Wieder ein Laden mit Wasserpumpen. In der ganzen Straße ist überhaupt ein Wasserpumpenladen neben dem anderen. Und am Ende ist ein kleiner Laden zu vermieten. Den mietet unser Türke, und was verkauft er dort? Klar: Wasserpumpen! Nach dem Motto: Konkurrenz belebt das Geschäft, das kriegen bei uns zu Hause nur die Apotheker fertig (Entschuldigung, Piet!).

 

   Nach dem Wasserpumpenviertel gelangen wir ins Glüh- und Lampenviertel. Hunderte (wirklich!) von Lampengeschäften reihen sich mehrere Straßen lang hintereinander, dann kommt das Teppichviertel und so weiter.

 

   Später geht es zum obligatorischen Absacker in eine kleine Straße neben dem Hotel. Mustafa von gegenüber ist völlig verzweifelt, alle marschieren nach rechts, dort, wo auch wir sitzen. Kaum ein Tourist kommt bis zu ihm durch. Er sabbelt sich den Mund fusselig und begleitet jeden Ankömmling die ganze Straße entlang, ohne Erfolg. Er hebt seine Augen gen Himmel in der Hoffnung, dass Allah ihm doch bitte ein paar Gäste zuschanzen möge. Doch Allah denkt gar nicht daran, auch der Muezzin, der wieder elektronisch verstärkt von den Minaretten donnert, kann daran nichts ändern. Irgendwann gibt er auf und macht seinen plüschigen Laden dicht.

 

   Top ist heute »Topkapi Sarrayi«, der alte Sultanspalast gleich nebenan. Vor den Sonderausstellungen, wie Schatzkammer mit größter chinesischer Porzellanausstellung wieder Touristen aus aller Herren Länder, die sich die Beine in den Bauch stehen, die Japaner sind schon ganz klein davon geworden.

Wir stellen uns dann lieber im Topkapi-Café für einen kleinen Imbiss an, serviert von einer Haremsdame unter einer Messing-Glocke; der Imbiss, nicht die Haremsdame. Von hier haben wir einen herrlichen Blick auf das Marmara-Meer im Süden, den Bosporus vor uns im Osten, den asiatischen Teil gegenüber und das Goldene Horn im Norden.

   Anschließend geht es ins Harem: Hunderte von Räumen, aber keine Haremsdame weit und breit, nicht einmal ein Eunuch. Hier war das Zentrum der Osmanischen Macht. Aber Osman ist ja schon lange tot und wurde viel später dann von Kemal Atatürk abgelöst. Und der hatte kein Harem und residierte auch weiter nördlich auf der anderen Seite vom Goldenen Horn im »Dolmabahçe Sarrayi«. Dort haben wir uns dann ein paar Tage später die Beine in den Bauch gestanden.

   Nachmittag fahren wir beide mit der Tram zum Aquädukt, während unsere beiden Mitreisenden den Galata-Turm besteigen. Bei der Šezade-Moschee, da, wo Scheherazade nächtelang ihre Stories erzählt haben muss, machen wir Pinkelpause, denn alle Moscheen haben eine Tuvalet (Klaro: Toilette) für Bay und Bayan getrennt, wäre ja auch noch schöner.

Später sitzen wir auf der Dachterrasse neben dem Galata-Turm und bewundern den Sonnenuntergang, der Hundert Minarette rot färbt und sich in den Fenstern großer Gebäude bis hin zur asiatischen Seite spiegelt. Ein traumhafter Anblick! Dann geht die Sonne unter, die Moscheen erstrahlen im Scheinwerferlicht und die Bosporus-Brücke, die Europa und Asien verbindet, bietet eine Lichtshow. Die Seile wechseln ständig ihre Farben, von Hellrot bis Tiefblau oder flackern in Weiß wie ein Stroboskop. Wow!

   Heute, am Donnerstag, ist die große Bosporus-Tour angesagt. Die Sonne knallt vom Himmel. Wir tuckern unter den beiden großen Brücken hindurch, die Europa mit Asien verbinden, bis hin zum Schwarzen Meer. Wir passieren traumhafte Villen, moderne Gebäude, prächtige Paläste, alte Dörfer, und grüne Hügel. Hier wohnt die türkische High-Society am dreckigen Wasser. Der Bosporus und auch das Goldenen Horn sind wirklich wahnsinnig verschmutzt, überall schwimmen Unmengen von Plastikteilen herum und dazwischen eine Delphinschule, allerdings ohne Lehrer, auf dem Weg ins Schwarze Meer. Wie die den Teil, wo das Goldene Horn und Bosporus zusammenkommen, überwunden haben, ist mir schleierhaft, denn dort wimmelt es nur so von Schiffen und Fähren, die die umliegenden Stadtteile von Istanbul verbinden. Und die machen einen Höllenlärm. Wahrscheinlich haben die Meeressäuger sich bereits im Mittelmeer mit Ohrstöpseln versorgt. Am nördlichen Ende, kurz vorm Schwarzen Meer, in »Anadolu Kavaği« klettern wir den Berg hoch zu einer byzantinischen Ruine mit Blick aufs Schwarze Meer. Hier hat das alte Byzanz die Durchfahrt kontrolliert.

   Abends sitzen wir am offenen Fenster in zweiten Stock über dem Hafen im Stadtteil Karaköy und schauen auf das geschäftige Treiben unter uns. Verkäufer preisen ihre Miesmuscheln mit Zitrone, heiße Esskastanien und Sesambrezel an. Die Menschen eilen daran vorbei auf die Fähren, und vor uns liegen zwei Kreuzfahrtschiffe und ein moderner Großsegler. Auf der Galata-Köprüsü stehen die Angler dicht an dicht und fangen haufenweise Mikro-Fische, gegen die jede Sardine ein Gigant ist.

   Die Seebrasse auf unserem Tisch dagegen ist eher Makro. Frisch gefangen und lecker für je zwei Personen zubereitet ist der Fisch ein absoluter Genuss.

 

   Der nächste Tag ist noch wärmer. Wir machen den Fehler, uns auf eine vom Marco-Polo-Reiseführer empfohlene Tour durchs alte jüdisch-christliche Viertel einzulassen. Wir finden zwar den Patriarchen und obersten Boss der griechisch-bulgarisch-serbisch und -russisch orthodoxen Kirche und sein Domizil, aber dann sind die Angaben so ungenau, dass wir ziellos durch eines der Armenviertel latschen, um schließlich aber doch in der gesuchten Teestube zu landen, mit traumhaften Blick über das Goldenen Horn bis hin zum Bosporus.

   Wir sind bisher oft gut mit dem Marco Polo Reiseführer gefahren, aber der für Istanbul ist eine einzige Katastrophe, es stimmt so gut wie nichts.

 

   Dann stellen sich unsere beiden Mitreisenden doch noch in die Schlange an der Hagia Sophia und berichten später begeistert von den Innenansichten.

 

   Am Tag darauf stehen wir uns die Beine in den Leib, denn wir wollen den »Dolmabahçe Sarrayi« besichtigen: Schlange vor der Kasse und Schlange vor dem Einlass. Nach gefühlten fünf Stunden in glühender Sonne (tatsächlich wohl nur eine) dürfen wir die Heiligen Hallen auf Plastiküberziehern betreten. Hier ist alles so, wie man als einfacher Mensch, der sein Wissen aus den Märchen von tausendundeiner Nacht bezieht, sich das Leben in einem Sultanspalast vorstellt. Auch der Staatsgründer Kemal Atatürk hat hier in den 20er-Jahren residiert. Die Gruppe ist riesig und da ich ziemlich am Ende bin, bekomme ich immer noch die letzten Sätze der englischen Führung mit. Aber es hat sich gelohnt und ich kann es unbedingt empfehlen, nur nicht zur Hauptreisezeit.

Von dort aus geht es dann mit der Fähre hinüber nach Üsküdar auf die asiatische Seite. Wir schippern vorbei am »Kiz Kulesi«, dem Inselchen mit dem »Leander-Turm« mitten im Bosporus, wo Pierce Brosnan als James Bond mit Sophie Marceau im Film »Die Welt ist nicht genug« rummachte, nachdem er in der Steinstraße in Hamburg seinen Wagen ins Schaufenster von Europcar geflogen hatte. Zu Fuß geht es am Bosporus entlang nach Kuzguncuk, einem pittoresken Dorf, das schon für manche Filme herhalten musste und zurück mit den Taxi nach Kadiköy, vorbei am alten Bahnhof der legendären Bagdad-Bahn, gebaut von deutschen Ingenieuren, die aber nie fertig wurde, weil der erste Weltkrieg dazwischen kam.

   Was macht ein türkischer Taxifahrer bloß ohne seine Autohupe? Er wäre nur ein halber Mensch. Bei Stau machen alle Autohupen einen entsetzlichen Lärm, aber weiter geht es trotzdem nicht. An den Fußgänger-Ampeln gibt es feste Regeln: Grünes laufendes Männchen bedeutet »gehen«, ein rotes stehendes Männchen heißt »Slalom laufen«. Man wartet nur bei mehrspurigem dichten Verkehr, bei dem sich die Autos Stoßstange an Stoßstange vorbeiwälzen und keinen Platz für ein schlankes Fußgängerbein lassen.

 

   Am letzten Tag, Pfingstsonntag, die Stadt ist überlaufen mit Touristen und Einheimischen, machen wir noch eine Bootstour den Haliç hinauf bis zum Stadtteil Eyüp, vorbei an zwei halbfertigen Brücken bis zu der Talstation einer Seilbahn, die oben einen tollen Blick verspricht, den wir aber nicht genießen, weil tausend andere dieselbe Idee hatten und wir schon unten in der Schalterschlange aufgeben.

 

   Straßen und Plätze sind voll mit türkischen Familien und kleinen, wie Prinzen gekleideten Jungen. Es wird das Fest der Beschneidung gefeiert. Wir wandern durch die schönen Gassen und lassen uns über einen Markt schieben, wo tausend Sorten Käse angeboten werden und die Menschen sich um Gruppen von tanzenden Männern drängeln.

 

   Abends sitzen wir unter der Galata-Brücke bei Bier und Wein und beobachten den Sonnenuntergang über dem Goldenen Horn, das seinem Namen nun alle Ehre macht. Danach sind wir zum Essen auf der Dachterrasse unseres Hotels, blicken auf das nächtliche Istanbul mit beleuchtetem Topkapi Sarrayi, Hagia Sophia und Blauer Moschee, Bosporus-Brücke und einer Baustelle gleich nebenan. In Istanbul wird gebaut, dass die Schwarte kracht. Zumindest fängt man an, ob man fertig wird, ist eine andere Sache. Am Goldenen Horn stehen seit Jahren zwei halbfertige, schon angerostete, Brücken herum und langweilen sich.

   Zu guter Letzt heißt es noch einmal Schlange stehen, der Atatürk-Flughafen von Istanbul platzt aus allen Nähten. Aber auch das überstehen wir und grausen uns vor dem Regen in der Heimat.

 

© Ulli Kammigan, Mai 2013